Kunst: Mehr angelernt, als man denkt

"Am liebsten hätte ich ja Musik und Kunst abgewählt - ich habe eben einfach null Talent!" Vor der elften Klasse durften wir Schüler uns entscheiden, welches der beiden Fächer Kunst und Musik wir gerne für den Rest der Oberstufe aus unserem Stundenplan streichen würden. In der Tat waren zahlreiche Schüler der Meinung, sie hätte gerne beides abgewählt. Ich gehöre zu den wenigen die eher am liebsten beides behalten hätten. Als Klavierspieler liegt mir Musik sehr nahe und an Kunst bin ich auch sehr interessiert, wobei ich im Umgang mit Pinsel und Stift zu Papier jedoch leider nur sehr ungeübt bin.

Ich sage sehr bewusst nicht, wie es das Anfangszitat vorschlägt, dass ich kein "Talent" habe. Denn ich behaupte - und darum geht es in diesem Artikel -, dass in diesem (schulischen) Rahmen von "Talent" überhaupt nicht die Rede sein kann. Vor einiger Zeit las ich in einem Artikel der Technology Review, dass es sich bei dem so genannten absoluten Gehör durchaus nicht um eine angeborene Veranlagung oder ein Talent handelt. Vielmehr ist ein absolutes Gehör erlernbar und wer es unter glücklichen Umständen bereits sehr früh nach der Geburt oder gar noch im Mutterleib erlernte, der hat es genauso antrainiert wie man es auch in beliebigem Alter noch antrainieren kann. Tatsächlich ergänzte ein weiterer Text, den ich woanders las, diese Vermutung noch, indem er darlegte, dass der ganze Komplex der "Musikalität" weitaus mehr mit Übung und Erfahrung zu tun hat, als man bis dato glaubte.

Betty Edwards beschreibt in ihrem Buch Das neue Garantiert zeichnen lernen, wie moderne Hirnforschung bestätigt, dass jeder Mensch eine unbekannt gute Veranlagung zum Künstlerischen hat, dass diese jedoch oft nie zum Vorschein kommt, weil es dazu der richtigen Übungsmethoden bedarf. Sie zeigt exemplarisch an Teilnehmern ihrer Zeichenkurse, welch verblüffende Leistungssteigerungen durch die in ihrem Werk aufgezeigten Praktiken erzielt werden können. Der Autor Andrew Loomis, dessen Buch Successful Drawing kostenlos Online verfügbar ist, betrachtet die Sache von einer weniger medizinischen Seite, stellt aber auch heraus, dass die Befähigung zum Zeichnen unglaublich viel von der richtigen (erlernbaren) Technik abhängt.

Es finden sich in deutscher aber vor allem auch in englischer Sprache noch zahlreiche andere Autoren, die mit ihren Büchern die zahllosen Menschen ansprechen, die ihr ungeschicktes Zeichen-Händchen fälschlicherweise auf nicht genügend Talent zurückführten. Ich kann es aus eigener Erfahrung nur wärmstens empfehlen, sich von der Ansicht zu distanzieren, künstlerische Befähigung und Musikalität seien vornehmlich angeborene Veranlagungen oder Talente. Zwar spielt das sicherlich auch eine Rolle, aber in einem ungeahnt geringen Maße und kommt so erst in einem extrem fortgeschrittenen Stadium zum tragen!

19. März 2008 - Tags: Literatur Wissen Kunst