Das Studium der Anderen: Eindrücke eines Fachfremden

Ich begann dieses Wintersemester zusammen mit fast 200 Studenten ein Mathematikstudium an der Universität Bonn. Zweihundert waren zwar schon eine ganze Menge - aber angesichts der über siebenundzwanzigtausend anderen Studenten, fühlte ich mich doch nicht so richtig als Student der Universität Bonn, solange ich keine Ahnung hatte, was eigentlich in den anderen Fachbereichen dieser großen Bildungseinrichtung passierte.

Es klingt aber auch wirklich so schrecklich interessant, was sich besonders im Stadtzentrum, im Universitätshauptgebäude, tagtäglich abzuspielen scheint. Ein Blick ins Vorlesungsverzeichnis lässt nur erahnen, was wir Naturwissenschaftler und Mathematiker hier im Poppelsdorfer Campus unbemerkt verpassen.

In einer der vergangenen Wochen nahm ich mir die Zeit, als Fachfremder Einblick in die unterschiedlichen Bereiche der Geisteswissenschaften zu erhalten. Die Freizeit, die mir als Mathestudent noch vergönnt ist, kratzte ich zusammen und füllte sie gnadenlos mit Vorlesungen und Veranstaltungen aller Art aus Romanistik, Hispanistik, Anglistik, Philosophie, Asienwissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Klassischer Philologie, Germanistik, Psychologie und Musikwissenschaft.

Das Semester hatte natürlich bereits vor einiger Zeit begonnen, was einerseits den Vorteil hatte, dass die Warmlauf-Phase bereits überstanden war. Andererseits drohte die thematische Desorientierung, die sich bei mir mangels hinreichender Vorkenntnisse hätte einstellen sollen, ein Nachteil zu werden. Diese Befürchtung bestätigte sich allerdings nicht. Das Wissen in den Geisteswissenschaften scheint wenig aufeinander aufzubauen. Dieser Eindruck mag aber auch damit zusammenhängen, dass ich vorwiegend Einführungsveranstaltungen besuchte, in denen breit gefächertes Grundwissen vermittelt wurde.

Ein wenig verwunderlich war es schon, als man in Einführung in die Kommunikationswissenschaften die Terminologie des "Kommunizierenden Menschen" definierte, als sei die Bedeutung des Wortes "Kommunikation" noch nicht klar - in der sechsten Veranstaltung.
Der Chinesisch-Kurs für Asienwissenschaftler war dagegen beeindruckend weit fortgeschritten: Hier konnte die Dozentin bereits kurze Texte diktieren, die von den Studenten ziemlich geschickt in den richtigen chinesischen Schriftzeichen niedergeschrieben wurden.
Zum Vergleich: Ein Chinesischkurs am Sprachenzentrum der Universität, dem ich ebenfalls beiwohnte, war auch nach zwei Semestern noch lange nicht so weit fortgeschritten wie die Erstsemester im Kurs für Asienwissenschaften.

Beachtlich, aber nicht weiter verwunderlich, waren die Französisch-Sprachkenntnisse der Romanistik-Studenten in der Vorlesung über Varietätenlinguistik. Die Thematik wurde sehr locker, wenig anspruchsvoll, aber dafür umso spannender gehandhabt.
Einen ähnlich positiven Eindruck machte die Einführung in die germanistische Linguistik. Dieser Vorlesung konnte man auch einigen Anspruch nicht abstreiten. Dafür schienen allerdings einige Studenten auch überfordert. Und der Professor, der die Vorlesung wirklich sehr interessant gestaltete, beklagte sich in einem kleinen Gespräch am Ende der Vorlesung über mangelndes Interesse in den Kreisen der Germanisten - schade, dass es an der Universität Bonn kein eigenes Fach "Linguistik" gibt.

Vielleicht ein Glanzlicht unter den von mir besuchten Veranstaltungen war eine, die Thomas Manns Epochenroman Der Zauberberg thematisierte, den ich bereits vor fast 4 Jahren etwas stümperhaft in einem viel zu kurzen Artikel erwähnte [1]. In der Vorlesung zum Thema fehlte es jedenfalls nicht an Spannung und Witz und schon gar nicht an Anspruch. Mit freundlicher Genehmigung des Dozenten, werde ich - quasi ein Fremdkörper aus der geradezu literaturfremden Mathematik - an dieser Veranstaltung nun regelmäßig teilnehmen.

In der Einführung in die griechische und lateinische Literaturgeschichte erarbeitete man gerade einen Epochenüberblick von griechischer Archaik bis zu byzantinischer Literatur. Die Vorlesung endete mit einem kurzen Einblick in die entsprechenden Epochen der lateinischen Literatur. Hier wurde sehr deutlich, wie die Fundamentbildung von Wissen in den Geisteswissenschaften grundlegend anders verläuft als in der Mathematik. Während man in dieser mit atemberaubenden Tempo quasi in die Höhe strebt, also neue Erkenntnisse aus wenigem vorher Erkannten ableitet, stecken jene das Gebiet zu Anfang breit ab, um dann nur allmählich die Höhen und Tiefen des Stoffes zu ergründen.
Dass der Lehrstil der Physiker in dieser Hinsicht einige Ähnlichkeit mit dem der Mathematiker hat, wurde übrigens anschließend in der Vorlesung Theoretische Physik II deutlich. Dort war ich als Fachfremder gänzlich orientierungslos und hätte kaum hoffen können, in absehbarer Zeit den Anschluss zu finden.

Doch zurück zu den Geisteswissenschaften. Ich besuchte noch eine Vorlesung über Musik in intermedialen Zusammenhängen, wo man den Film "Ludwig van" aus den 70er Jahren analysierte. Die Diskussionen fanden durchaus auf gehobenerem Niveau statt, ich hatte allerdings keinerlei Schwierigkeiten, den Ausführungen zu folgen.
Die Einführung in die Philosophie war ähnlich konzipiert. Der Dozent wagte durchaus, die eine oder andere schwierige Kontroverse einzuwerfen, blieb aber auf einer allgemein verständlichen Stilebene. Thema der Vorlesung, der ich beiwohnte, war die "Wissenschaftsphilosophie".

Noch eine Einführungsveranstaltung besuchte ich im Bereich Anglistik: Introduction to linguistics. Es handelte sich hierbei um die einzige Vorlesung in meiner Liste, die komplett in einer Fremdsprache gehalten wurde. Doch auch hier gab es weder inhaltliche noch sprachliche Verständnisschwierigkeiten. Ich wohnte einer Besprechung des Themas Varietäten (Dialekte) der englischen Sprache bei. Die Englischkenntnisse aus der Schule reichten für die sprachlichen, meine Allgemeinbildung für die thematischen Ansprüche der Vorlesung völlig aus. Der Professor gestaltete seine Vorlesung zwar interessant, so richtig begeistern konnte ich mich dafür aber nicht.

Zwar inhaltlich hoch interessant und anspruchsvoll, aber bezüglich der Aufmachung absolut einschläfernd war eine Veranstaltung über Ovid-Rezeption im Mittelalter. Natürlich verstehe ich kein Mittelhochdeutsch, aber der Professor übersetzte freundlicherweise alles immer sofort, wenn er etwas zitierte. Und da mir aus dem Lateinunterricht Ovid bereits ein Begriff war, konnte ich auch dieser Thematik recht gut folgen. Nur dass der Professor jeden Satz seines Vortrags mit unwahrscheinlich monotoner Stimme abzulesen schien, war wenig vorteilhaft.

Grundbegriffe der Literaturwissenschaft konnte der Hispanistik- und Altamerikanistikprofessor in seiner gleichnamigen Veranstaltung zwar vermitteln. So richtig kompetent wirkte er dabei aber nicht und die Grundbegriffe der Lyrik, die in der Vorlesung behandelt wurden, der ich beiwohnte, waren mir bereits aus der Schule wohl bekannt.
Ebensowenig waren mir die Themen der Vorlesung Musikalische Satztechnik und Analyse fremd. Obwohl es bereits die fünfte Veranstaltung war, beschäftigte man sich zum ersten Mal mit Dur- und Moll-Dreiklängen, ihren Umkehrungen und Funktionen und dem Quintenzirkel. Das Vortragstempo stellte im Übrigen auch keinen baldigen Wechsel auf eine höhere Anspruchsebene in Aussicht.

Wesentlich interessanter war schließlich die Einführung in die Psychologie, wo man sich mit dem Libet-Experiment und dem Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo (siehe dazu auch den Film mit Moritz Bleibtreu [2]) beschäftigte. Auf Nachfrage ging die Dozentin dabei auch gerne weiter auf aktuelle Standpunkte in der Psychologie ein. Nicht zufriedenstellend beantworten konnte sie allerdings die Nachfragen zu ihrer eigenen Definition vom Begriff "Ich". Ob sie da in einem Anfänger-Kurs nicht zu weit ins Detail gehen wollte oder ob ihre Kompetenz in der Hinsicht zu wünschen übrig ließ, wurde nicht ganz klar.

Obwohl das Universitätshauptgebäude ganz andere Dimensionen hat als die Gebäude hier im Poppelsdorfer Campus, fiel kein Hörsaal größer aus, als der große Hörsaal, in dem wir Mathematiker unsere Erstsemester-Vorlesungen hören. Zugegebenermaßen habe ich viele ungewöhnliche und daher erwartungsgemäß nicht übermäßig stark besuchte Veranstaltungen besucht. Aber der einen oder anderen hätte ich doch ein größeres Publikum zugetraut.
Dafür, dass Mathematiker mehr Kapazitäten zu brauchen scheinen, kommen ihre Vorlesungen im Allgemeinen mit einfachen traditionellen Methoden ziemlich gut aus, wohingegen man in den meisten anderen Fächern eine inflationäre Verwendung von Beamern und anderen digitalen Medien erkennen kann. Die Tafeln scheinen nur in Ausnahmefällen Benutzung zu finden, wenn im jeweiligen Hörsaal überhaupt eine Tafel vorhanden ist - bisweilen ist zwar eine Tafel da, aber statt Schwamm und Waschbecken gibt es nur einen Eimer Wasser und ein winziges Tüchlein. Diese mangelhafte Ausstattung der Räumlichkeiten im Hauptgebäude stört die Dozenten aber in der Regel nicht: Ihre Powerpoint-Präsentation reicht ihnen aus, wenn sie überhaupt irgendein visuelles Medium verwenden.
Erwähnenswert ist auf jeden Fall außerdem, dass bei Geisteswissenschaftler ausnahmslos Anwesenheitspflicht herrscht: Wer sich für eine Veranstaltung einschreibt, muss dort auch jedes Mal erscheinen, sonst wird ihm diese nicht angerechnet. Anwesenheitskontrolle über Unterschriftenlisten ist die Regel. Das kenne ich aus der Mathematik nicht in dieser Form - zwar wird ein Tutor niemanden zur Prüfung zulassen, der nie in der Übung erschienen ist, aber Anwesenheitskontrolle gibt es dort bisher nicht. Und in den Vorlesungen verzichtet man auf solcherlei Dinge vollständig.

Aus dem obigen Text geht das inhaltliche Fazit meines Exkurses bereits hervor: Mathematiker und Physiker haben eine aufwärtsgerichtete Art des Lernens, während die meisten Geisteswissenschaftler tendenziell eher breites Wissen anhäufen, bevor sie zögerlich ein höheres Niveau angehen. Dadurch fällt es im Allgemeinen auch Fachfremden nicht schwer, den Vorlesungen zu folgen. Und wenn man die richtige Veranstaltung erwischt, kann sie auch ein richtig spannender und unterhaltsamer, aber natürlich vor allem inspirierender und informativer Freizeitfüller sein.
Der Besuch der unterschiedlichen Veranstaltungen war für mich also eine lohnende Erfahrung, die ich nur jedem Studenten oder Nichtstudenten (meinen Ausweis hat man natürlich nie kontrolliert) wärmstens empfehlen kann.

  1. tovotu.de/blog/21-N...-Zauberberg-bezwungen
  2. de.wikipedia.org/wi...Experiment_%28Film%29
15. Dezember 2010 - Tags: Exkurs Studium Karriere Bonn