Das Stockholm-Syndrom des Medien-Kapitalismus

In der Medienwelt gelten diese Plattformen als technischer Fortschritt, weil vermeintlich viele Menschen erreicht werden.Instagram, YouTube, Facebook, WhatsApp, Twitter, Amazon, Xing, LinkedIn, Sina Weibo, Youku, VK und wie sie alle heißen. Wer eine globale Audienz erreichen will (etwa internationale NGOs oder Konzerne), muss auf all diesen Plattformen Konten betreiben und Inhalte in der jeweils erlaubten Form einstellen. Privatpersonen führen Kleinkriege darüber, welche Plattform die beste ist und legen im Zweifel auch zehn verschiedene Konten auf acht verschiedenen Plattformen für ihre zwölf verschiedenen Bekanntenkreise an. Unter Menschen, die in der Medienwelt tätig sind, gelten diese Plattformen als großer technischer Fortschritt, weil sie es ermöglichen, vermeintlich so viele Menschen auf einmal zu erreichen. Ich werde im Nachfolgenden demonstrieren, dass diese Interpretation der unübersichtlichen Gemengelage längst nur noch eine Art Stockholm-Syndrom des Kapitalismus ist. Schon lange gibt es keine technische Begründung mehr dafür, warum man überhaupt verschiedene Konten betreiben muss, warum Inhalte doppelt und dreifach außerhalb der eigenen Kontrolle auf Servern am anderen Ende der Welt gepostet und gehostet werden müssen. Der ganze Wahnsinn ist nur nötig, weil seit Jahren jeder politische Gestaltungswille fehlt und der Plattformkapitalismus der sozialen Medien in unverantwortlicher Weise sich selbst überlassen wird. Am wenigsten überraschend ist dabei vermutlich, dass die Rolle der sozialen Netzwerke selbst in diesem Spiel an Scheinheiligkeit nicht zu übertreffen ist.

Ich will bei LinkedIn auch Facebook-Kontakte haben könnenAngenommen ich habe ein Konto bei LinkedIn. Dann will ich da in meiner "Freundesliste" auch Personen haben können, die bei Facebook sind. Die sollen mein privates LinkedIn-Profil auch sehen können, wenn sie gar kein LinkedIn-Konto haben. Und wenn ich ein privates Fotoalbum bei LinkedIn anlege, das ich mit einem ausgewählten Personenkreis teilen will, dann will ich die Möglichkeit haben, den Zugang auch meinen Freunden bei Facebook zu ermöglichen. Außerdem will ich auch Mitglied in Facebook-Gruppen werden können, wenn ich nur ein LinkedIn-Konto habe. Und wenn LinkedIn pleite geht (so wie damals StudiVZ), dann will ich die Möglichkeit haben, mit meinem kompletten Datensatz auf Xing umzuziehen. Wenn ich eine Produktrezension als LinkedIn-Post schreibe, dann soll die auch bei Amazon angezeigt werden und in die dortige Sterne-Bewertung einfließen. Videos auf YouTube will ich mit meinem LinkedIn-Profil kommentieren und liken können, sodass meine Kommentare dort auf YouTube unter dem Video erscheinen. Und schließlich will ich mit der LinkedIn-App chatten und private Nachrichten austauschen mit Menschen, die WhatsApp oder Instagram benutzen. Und jetzt bitte noch alle Namen sozialer Medien in diesem Absatz beliebig vertauschen.

Alle technischen Mittel sind da, um diese Vorstellung Realität werden zu lassenKlingt utopisch? Technisch sind alle Mittel da, um diese Vorstellung Realität werden zu lassen. Die technische Lösung heißt "Föderation". Es geht dabei nur darum, dass alle teilnehmenden Plattformen untereinander kompatible Protokolle und Schnittstellen benutzen müssen. So, wie ich mit einer Mail-Adresse bei Gmail.com völlig ohne Einschränkungen auch Menschen mit Mail-Adressen auf Mailbox.org oder Posteo.de erreiche oder mit einem Handyvertrag bei O2 auch Handynummern der Telekom kontaktieren kann und Banküberweisungen zwischen Kunden verschiedener Banken völlig selbstverständlich sind. Aber ich soll ein Konto bei Facebook oder Twitter anlegen, nur um eine Nachricht an den Social Media Support der Deutschen Bahn schicken zu können?

Die Vorteile standardisierter Schnittstellen wären gigantisch:

  • Der eigentliche Sinn von sozialen Medien ist, Menschen miteinander zu verbinden. Bisher stellen sie aber lediglich Verbindungen zwischen verschieden Konten eines Netzwerks her und eben nicht wirklich zwischen den Menschen, deren Online Alter Egos ja in einer wahnsinnigen Schizophrenie auf unzählige Konten aufgeteilt sind.
  • Datenschutz: Ich entscheide mich für eine einzige Plattform meines Vertrauens. Das könnte eine sein, die von meiner Universität oder vom lokalen Ortsverein betrieben wird. Ich könnte im Zweifel sogar meine eigene schaffen. Diese Wahl ist völlig unabhängig von der tatsächlichen Funktionalität des Netzwerks. Sie entscheidet nur darüber, wo meine privaten Daten liegen. Wer soll Einsicht in die Gesamtheit meiner Aktivitäten bekommen, also, welche privaten Nachrichten ich schreibe, welche privaten Fotoalben ich teile oder welche Kanäle ich verfolge?
  • Der Ansatz hat das Potenzial, Energie und Ressourcen zu sparen, indem Inhalte von Inhalteanbietern nicht mehr doppelt und dreifach existieren müssen, damit die Nutzer der verschiedenen Netzwerke gleichermaßen erreicht werden können. Außerdem können Inhalte von lokalem Interesse auch auf lokalen Servern gespeichert werden.
  • Zensur wäre nicht mehr in dem Ausmaß möglich, wie es zentralisierte Plattformen erlauben, da die Föderation aus unzähligen Plattformen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen bestünde. Im Zweifel könnte sogar problemlos jeder Inhalteanbieter mit einer eigenen Plattform Teil der Föderation werden.
  • Durch die verteilte Struktur und die kompatiblen Schnittstellen verringert sich die Gefahr eines Datenverlusts, etwa durch technische Defekte oder wenn eine Plattform schließt (wie im Fall von StudiVZ).
  • Ebenso wären Datenleaks nicht mehr in dem Ausmaße möglich, wie wir es heute schon geradezu täglich in den Nachrichten hören. Fast alle Leaks sind ja ausschließlich aufgrund der fortgeschrittenen Zentralisierung so umfangreich.
  • Die Nützlichkeit einer Plattform bemisst sich heute an der Anzahl ihrer Nutzer. In der Föderation sind Plattformen bloß Zugangspunkte zur Kommunikationsinfrastruktur. Der Netzwerkeffekt, der heute Nutzerinnen dazu zwingt, sich bei den Netzwerken zu registrieren, wo auch alle anderen Nutzerinnen registriert sind, ist damit passé.
  • Wenn einmal die Schnittstellen standardisiert sind, haben endlich freie Open-Source-Lösungen eine Chance, den Markt zu betreten. Sie bieten den Vorteil der Transparenz. Hier wäre endlich nachvollziehbar, wie Timeline-Filter und Werbealgorithmen funktionieren.

Zur Föderation in ihrer heute existierenden Form gehören etwa Mastodon, Hubzilla, Diaspora, PixelFed oder Friendica, im weiteren Sinne auch PeerTube oder das dat-Protokoll. Zugegebenermaßen adressiert nicht jeder dieser Ansätze alle oben formulierten Forderungen. Und die vielen Namen klingen nach einer neuen Gemengelage. Aber das täuscht: Diese Lösungsansätze sind untereinander weitgehend kompatibel!

Konkret: Wenn ich bei libranet.de ein Konto habe, kann ich Nutzern von despora.de Freundschaftsanfragen senden oder Fotoalben mit meinen Freunden auf squeet.me teilen. Außerdem kann ich Leuten auf mastodon.social folgen und deren Beiträge werden dann in meinem Login-Bereich auf libranet.de in der Timeline angezeigt. Ich kann dort "gefällt mir" klicken und die Beiträge "teilen" oder "kommentieren". Ich kann auch Videos auf peertube.social mit meinem Mastodon-Konto kommentieren und liken. Und ja, der "like"-Zähler und die Kommentarbereiche sind dann wirklich plattformübergreifend!

Technisch ist das alles schon Realität! Es fehlt nur noch, dass Twitter, Instagram, YouTube, LinkedIn, Xing, Facebook und Co. endlich die entsprechenden technischen Standards, Protokolle und Schnittstellen unterstützen. Nur wird von Seiten der Plattformbetreiber Google, Facebook und Co. massiv dagegen gearbeitet, weil das bedeuten würde, dass sie die Hoheit über die privaten Daten und das Surfverhalten ihrer Nutzerinnen sowie ihre jeweiligen Monopolstellungen verlören. Deswegen brauchen wir eine klare politische Forderung: Die nötigen Standards müssen international festgelegt und alle Unternehmen (mindestens kartellrechtlich) dazu gezwungen werden, die Standards dann auch zu unterstützen!

Es gibt einige Initiativen, die meine politische Forderung schon in teilweise abgewandelter Form hier und da anbringen, etwa die Electronic Frontier Foundation oder die französische Non-Profit La Quadrature du Net. Der Chaos Computer Club hat es damit immerhin schon in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschafft [1]:

"Im nächsten Schritt sollte als Teil der Kartell- und Monopolregulation eine Zerschlagung angestrebt werden. [...] Eine Aufteilung [von Facebook] in kleinere Einheiten, die aber nach dem selben technischen Standard funktionieren und kommunizieren, so dass sich Menschen weiterhin in ihren Social Networks finden können, ist technisch problemlos machbar." - Frank Rieger, Sprecher für den Chaos Computer Club

Im weiteren Sinne Advokaten der Föderation sind der Verein DigitalCourage, die französische Non-Profit Framasoft (aktuell etwa mit Contributopia), switching.social, Fuck Off Google, Liberapay und viele weitere.

Aber auf technischer Seite existieren solche Schnittstellen wie gesagt größtenteils. Einige wichtige Stichworte: SocialCG, ActivityPub, Nomadic Identities und IndieWeb (siehe auch Indiewebify Me und Chris Aldrich). Auf politischer Seite hat es prinzipiell schon in der Vergangenheit immer wieder die Regulierung technischer Schnittstellen gegeben (zum Beispiel Fernsehnormen wie DVB, Mobilfunkstandards wie GSM, der EU-einheitliche Micro-USB-Standard für Handy-Ladekabel, die alle vertraglich oder gesetzliche verpflichtend sind). Und da wir bei Facebook, Amazon und Google klare Monopol-Bildungen sehen, gibt es keinen Grund, warum Kartellämter nicht schon längst aktiv geworden sind.

Was können Inhalteanbieterinnen und Medienarbeiter heute schon tun?So viel zur strukturellen Seite. Was können Inhalteanbieterinnen und Medienarbeiter heute schon tun? Ein Ansatz besteht momentan darin, dass man zwar überall Konten betreibt, aber den Hauptinhalt auf einer föderierten Plattform veröffentlicht und von den anderen Plattformen darauf verweist. Also beispielsweise lade ich bei YouTube nur einen Teaser hoch und stelle das Hauptvideo auf peertube.social. Oder ich lade Fotos auf libranet.de hoch und poste bei Twitter einen Link dorthin. Außerdem verweise ich in meinen Profilbeschreibungen darauf, dass die eigene Hauptaktivität in der Föderation stattfindet. So bin ich nicht abgeschnitten vom Mainstream, aber bereite einen mittelfristigen politischen Übergang in eine bessere Medienwelt vor.

Übrigens kann man so eine föderierte Plattform dann auch einfach selbst auf eigenen Servern betreiben. Der Beispiel e.V. erstellt dann eine so genannte "Instanz" auf beispiel-ev.de mit Konten official@beispiel-ev.de oder vorstand@beispiel-ev.de. Alle Inhalte (Texte, Videos, Fotos) werden auf den Servern unter beispiel-ev.de bereitgestellt. Über die einheitlichen Schnittstellen können dann Benutzerinnen aus der Föderation überall auf der Welt der entstehenden Timeline folgen, Inhalte teilen, kommentieren und liken, ohne ihre jeweils eigenen Plattformen zu verlassen.

Facebook macht es der Föderation absichtlich schwerDie Mainstream-Plattformen Twitter, YouTube und vor allem Facebook schweigen sich momentan komplett über dieses Schnittstellenproblem aus. Vor allem Facebook arbeitet seit langem sichtlich daran, eine Vernetzung mit der Föderation möglichst schwer zu machen. Bei Twitter ist es immerhin technisch möglich, die Aktivitäten eines Twitter-Kontos ohne eigenes Twitter-Konto zu abonnieren, sodass man mit einem Konto in der Föderation bereits heute Twitter-Aktivitäten verfolgen kann (Interaktion ist allerdings nicht möglich). Twitter bietet auch Schnittstellen an, die so genanntes Crossposting erlauben. So kann man schon heute mit der Android-App AndStatus Konten auf Twitter und Mastodon parallel verwalten und dann Posts schreiben, die auf beiden Plattformen gleichzeitig erscheinen. Facebook weigert sich seit langem, die für so eine App nötigen Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Und das, obwohl sie es als ihre radikale Mission ausgeben, Menschen zusammenzubringen, zu verbinden und Kontakte zwischen ihnen herzustellen - diese Haltung ist an Scheinheiligkeit kaum zu übertreffen.

Nach der Übernahme von Instagram und WhatsApp durch Facebook war klar, dass Facebook diese Dienste früher oder später in ihre Blase einbetten würde, was dann auch schleichend über Jahre immer mehr Realität wurde. Vor dem letzten Schritt, WhatsApp und den Facebook Messenger zu verschmelzen, werden aktuell wieder Gegenstimmen laut. Auch an die Kartellbehörden wird appeliert.[2] Diese Entwicklung schreit eigentlich danach, endlich föderierte Schnittstellen zu erzwingen. Startet die Kampagnen, die Petitionen, die Demos und Boykott-Aufrufe! Wir müssen endlich aus dem Tran rauskommen, endlich anfangen, wirklich Menschen miteinander zu verbinden, anstatt sie in Blasen fein säuberlich getrennt zu kultivieren.

  1. br.de/radio/bayern2...lagen-werden-100.html
  2. fr.de/wirtschaft/fa...stagram-11517771.html
27. Januar 2019 - Tags: Gesellschaft Internet Meinungen Recht Verbraucher