25. August 2011
Aufschlussreiches über Kritik an sich
Als mir vor zwei Jahren auf der Frankfurter Buchmesse am Messestand des Suhrkamp-Verlages ein Buch mit dem Titel "Was ist Kritik?" ins Auge sprang, ahnte ich, dass dieses Buch einige interessante Antworten für mich bereithalten würde. Ich warf damals auch einen Blick in das Vorwort des Buches und sah dort tatsächlich viele spannende Kontroversen um das Wesen der Kritik erfasst. Oft spekulierte ich mit unterschiedlichen Personen über den Inhalt dieses vielversprechenden Werkes, kam aber nie dazu, es zu kaufen, bis mich eines Tages eine besonders aufmerksame Person liebenswürdiger Weise damit überraschte.
Trotz des Mathematikstudiums, dass mich zum damaligen Zeitpunkt gehörig einnahm, machte ich mich ziemlich rasch über den ersten Aufsatz her - es handelt sich nämlich bei Was ist Kritik? um eine Sammlung von Aufsätzen zum titelgebenden Thema (herausgegeben von Rahel Jaeggi und Tilo Wesche). Aber schon der erste Aufsatz nach dem wirklich ansprechenden Vorwort rühmte sich einer überaus schwer verständlichen Ausdrucksweise. Der gewöhnungsbedürftige Fachjargon von Soziologen und Sozialphilosophen schlug mir entgegen und zog sich so durch den ersten Abschnitt des Buches, bestehend aus drei Aufsätzen über "Kritik als Praxis".
Fast etwas enttäuscht gelangte ich dann aber dennoch vor zwei Wochen unter einigen Mühen zum zweiten Abschnitt über die normativen Grundlagen der Kritik. Im Gegensatz zum ersten vermochte dieses Kapitel mich sofort in seinen Bann zu ziehen. Die Ausdrucksweise in den vier Aufsätzen zeugte von der mir so sympathischen Exaktheit und Strukturiertheit neuzeitlicher Philosophen. Die Aufsätze begeisterten mich so sehr, dass ich mich dazu entschloss, einen Artikel darüber zu verfassen, noch bevor ich den letzten Abschnitt über die Konstellation der Kritik gelesen haben würde.
Der besagte zweite Abschnitt beginnt mit dem noch arg anspruchsvollen, dafür aber angenehm präzisen Aufsatz der irischen Professorin Maeve Cooke über die Rationalität der Gesellschaftskritik, in dem sie die Begriffe "Rationalität" und "Gesellschaftskritik" definiert und in unterschiedlichen historischen Kontexten untersucht. Dazu betont sie zunächst den herausragenden Stellenwert von Utopien und Mythen in der Gesellschaftskritik. Dadurch dass sie die Zustände darstellen, von denen Menschen träumen - zu denen sie sich hingezogen fühlen, haben Mythen und Utopien ein besonderes Potential, sich schließlich durchzusetzen. Indem sie außerdem der freien Fantasie entspringen, stellen sie bemerkenswert fruchtbare Quellen der Inspiration dar. Das eigentliche Anliegen des Aufsatzes ist es, davon ausgehend die Notwendigkeit von Rationalität herauszuarbeiten und zu präzisieren, was Rationalität in der Gesellschaftskritik leisten muss.
Mit "Kritik, und wie es besser wäre" liefert Rüdiger Bittner von der Universität Bielefeld anschließend gewissermaßen den grundlegendsten Aufsatz des Buches. In spannenden Beispielen und verständlicher Sprache erarbeitet er Antworten auf drei Fragen: Der Frage "Was ist Kritik?" versucht er zunächst mit einer linguistisch-etymologischen Methode beizukommen, die äußerst interessante Antworten bereithält.
Konkreter wird es dann bei der Frage "Was ist kritisch an der kritischen Theorie?", wobei man wissen muss, dass mit "kritischer Theorie" die auf der Gesellschaftskritik von Hegel, Marx und Freud fußende Frankfurter Schule gemeint ist. Im wesentlichen beschäftigt sich Bittner hier mit Aufsätzen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Dabei erfuhr ich viel über deren Anschauungen, unter anderem über die Spiritualität in Adornos Gesellschaftskritik. Die letzte Frage lautet "Muss ein Kritiker auch sagen können, durch welche Eigenschaften der betreffende Gegenstand seiner Kritik entginge?". Sie scheint wesentlich dadurch motiviert zu sein, dass speziell Adorno sogar ausdrücklich verbietet, die "wahre Erkenntnis der Welt" zu beschreiben, sofern sie jemand erlangen sollte. Die eher diplomatische Antwort Bittners auf diese Frage lautet schließlich, dass es vom Verständnis des Begriffs "Kritik" abhängt, ob die Nennung der jeweils besseren Eigenschaften notwendig ist.
Rainer Forst, Professor der Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, ist Verfasser des dritten Aufsatzes: "Der Grund der Kritik. Zum Begriff der Menschenwürde in sozialen Rechtfertigungsordnungen". Hier referiert Forst über die Legitimation des Begriffs der Menschenwürde. Er stellt nämlich richtiggehend fest, dass Menschenwürde eine wesentliche Bewertungskonstante in der Gesellschaftskritik darstellt und daher immer wieder neu einer legitimierenden Überprüfung ausgesetzt werden sollte. Dabei verwendet Forst die in den letzten Jahrzehnten etablierte Argumentation auf der Grundlage der Anschauung des Menschen als rechtfertigendes und begründendes Wesen: Wo eine moralische Handlung vollzogen wird, hat der Handelnde die Pflicht, sein Handeln zu rechtfertigen, und die Personen, an der moralisch gehandelt wird, hat umgekehrt ein Recht auf eine Rechtfertigung dieser Handlung. Aus dieser Grundüberlegung leitet Rainer Forst den üblichen Begriff der Menschenwürde überzeugend her.
Im letzten Aufsatz beschäftigt sich Raymond Geuss, Professor der englischen Universität Cambridge, mit "bürgerlicher Philosophie". Es geht also um Philosophie (und Gesellschaftskritik), die den momentanen Staat bzw. die momentane Gesellschaftsform als gegeben hinnimmt und in diesem Ermessensspielraum eine Kritik zu entwickeln sucht. Sie steht im Gegensatz zur so genannten "radikalen Kritik", die ebenso das System (des Staates, der Gesellschaft) an sich in Frage stellt.
Wie gesagt habe ich den letzten Abschnitt, der immerhin fast die Hälfte des Buches bzw. acht Aufsätze umfasst, noch nicht gelesen. Der Titel lässt vermuten, dass es um die Frage geht, ob Kritik nur aus der kritisierten Gesellschaft heraus geäußert werden kann oder ob man sogar umgekehrt fordern muss, dass der Kritiker einen von der Gesellschaft unabhängigen Standpunkt einnimmt. Mein Eindruck ist aber bereits jetzt, dass das Buch eine bereichernde Lektüre darstellt, wenn man sich die Zeit nimmt, den manchmal etwas anstrengenden Fachjargon zu entschlüsseln. Im Zweifel kann man den ersten Abschnitt überspringen, wenn man sich mit der dortigen Ausdrucksweise überfordert sieht, da die einzelnen Aufsätze nicht in direktem Zusammenhang stehen.