17. Januar 2015
Gedicht ohne Fugenelement analysieren?
Kürzlich gab es einen Twitterpost, der mich ins Grübeln brachte:
"Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen." - @nainablabla am 10. Januar 2015.
Das mulmige Gefühl beschlich nicht nur mich. Innerhalb kürzester Zeit kam es zu tausenden Retweets. Irgendwas stimmte mit diesem Tweet nicht. Schließlich war es die BILD-Zeitung, die ihn falsch zitierte und damit den feinen Makel aufdeckte. Da hieß es plötzlich:
"Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen." - BILD online am 13. Januar 2015.
Eine subtile erzieherische Maßnahme? Google jedenfalls will von einer "Gedichtsanalyse" noch nie gehört haben und drängt mich zur Suche nach der "Gedichtanalyse". Damit handeln BILD und Google ganz im Geiste des Schriftstellers Jean Paul, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Verbannung sämtlicher Fugenelemente aus der deutschen Sprache forderte.[1] Freilich konnte sich dieses wunderliche Gebot nicht durchsetzen.
Man mag vom Duden denken, was man will. Er kennt jedenfalls weder Gedichtanalyse noch Gedichtsanalyse und scheint damit in diesem Fall einen schlechten Richter abzugeben. Doch halt! Immerhin die Gewichtsanalyse scheint der Duden-Redaktion ein Begriff zu sein. Warum also der literarischen Disziplin vorenthalten, was man der geodätischen gönnt?
Es klingt doch so richtig! Warum soll des Gedichts Analyse eine Gedichtanalyse sein? Hat da etwa die Verwaltungssprache (oder Verwaltungsprache?) der deutschen Bürokratie die Finger im Spiel? Diese hat nämlich auch das "-s-" in Einkommensteuer auf dem Gewissen. Vielleicht will @nainablabla auch deswegen neuerdings, da sie mit Steuern auf Tuchfühlung gegangen ist, Gedichte ohne Fugenelement analysieren:
"Update: Ich hab jetzt 'ne Ahnung von Miete, Steuern und Versicherungen und kann Gedichtanalysen ohne S schreiben. Immer noch auf 4 Sprachen." - @nainablabla am 14. Januar 2015.