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27. Mai 2011
Kultur an der Ruhr: 6 Stunden in Essen

Obwohl die letzte Zeche in Essen schon 1986 stillgelegt wurde und sich schon davor eine Verschiebung des wirtschaftlichen Schwerpunktes zum Dienstleistungssektor angebahnt hatte, verbinden viele Deutsche mit der zweitgrößten Stadt des Ruhrgebiets die traditionell verwurzelten Schlagworte Bergbau und Stahlindustrie.

Deutschlands stärkstes Unternehmen der Stahlindustrie, ThyssenKrupp, sitzt tatsächlich nach wie vor in Essen. Aber längst fließen Essens Steuergelder vornehmlich aus ganz anderen Quellen (Unternehmenssitz Essen haben beispielsweise Aldi Nord, Backwerk, Deichmann, Karstadt oder auch Starbucks Deutschland). Es ist übrigens eine irreführende und vor allem falsche Interpretation, den Namen der Stadt auf den Begriff "Esse" aus der Metallurgie zurückzuführen. Tatsächlich schauen die fast sechshunderttausend Einwohner Essens auf eine 1200jährige Stadtgeschichte zurück, an deren Anfang ein Frauenstift stand. Der Name ist im Laufe der Zeit aus "Astnithi" hervorgegangen, wahrscheinlich der Name eines mittelalterlichen Adelsgeschlechts der Region.

Als ich gestern dank meines NRW-Tickets (Studenten genießen Freifahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr Nordrhein-Westfalens) in den Genuss eines spontanen Kurztrips nach Essen kam, konnte ich einen eigenen, wenn auch kurzen Eindruck davon gewinnen, was die Metropole, die sich inzwischen "Kulturhauptstadt Europas 2010" nennen darf, wirklich auszeichnet.
Die besondere Betitelung im Namen der Kultur wird seit den 80er-Jahren jährlich von der Europäischen Union vergeben. Und Essen, das sich 2006 stellvertretend für das Ruhrgebiet um diese Auszeichnung bewarb, ist zu Recht stolz auf diesen Erfolg: Neben Essen ist in Deutschland nur Weimar Kulturhauptstadt Europas (1999). Außerdem erhielt West-Berlin in den 80er-Jahren das Äquivalent "Kulturstadt Europas".

Vor meinem Kurztrip hatte ich bereits bemerkt, dass Google Streetview für Essen verfügbar ist. Dort sah ich mir den Stadtkern und insbesondere den Bahnhof schonmal an. Letzterer machte leider keinen guten Eindruck. Das Bildmaterial von StreetView stellte sich aber als überholt heraus (von 2009) und als ich schließlich den Essener Bahnhof mit eigenen Augen begutachtete, bot sich mir ein wesentlich überzeugenderes Bild. Wahrlich eine Stadt im Wandel.

Ein vielleicht weniger bedeut- als unterhaltsames Detail ist dabei, dass die McDonald's-Filiale im Norden des Bahnhofs ihren Standort geändert hat: Sie befindet sich jetzt (im Vergleich zu StreetView) auf der anderen Straßenseite und bietet außerdem einen weit attraktiveres Erscheinungsbild, während an ihrem ursprünglichen Standort ein "MrChicken" eingezogen ist, dessen Logo (man beachte "MrCafe") eine beachtliche Ähnlichkeit mit dem Schriftzug seines Vorgängers aufweist - ein Schelm, wer etwas Böses dabei denkt.[1]

Bei meiner nur 6stündigen Erkundung Essens orientierte ich mich am "Kulturpfad", einer Fußgängerroute, die durch blau leuchtende Steine im Pflaster markiert ist und vom Folkwang-Kunstmuseum im Süden sowie vom Ende der Fußgängerzone im Norden begrenzt wird. Näheres über den Kulturpfad kann man in der Touristeninformation vor Ort erfragen. Im dort ausliegenden Flyer gibt es eine kleine Übersichtskarte.

Wie ich im Nachhinein erfuhr, rentiert sich auch ein Besuch des Essener Südens jenseits des Folkwangmuseums. Dort zeigt sich Essen mit dem Grugapark, einem der größten Parks Deutschlands, von seiner grünsten Seite (dort gibt es auch ein von Hundertwasser entworfenes Ronald-McDonald-Haus). Ich selbst bekam davon leider nichts mit, da ich meine Tour mit einem gut eineinhalbstündigen Besuch im Kunstmuseum Folkwang startete, von wo aus mich der Kulturpfad an Erlöserkirche, Folkwangbrücke, Stadtgarten, Saalbau der Philharmonie und Aalto-Oper vorbei nach Norden führte.

Während das Stadtbild südlich des Bahnhofs von modernen und großen Bürogebäuden gesäumt ist, betritt man ausgehend vom Bahnhof nach Norden fast direkt die Fußgängerzone mit zahlreichen modernen Einkaufszentren wie der Rathausgalerie. Hier gibt es auch den ein oder anderen Platz zum Verweilen: etwa neben der Münsterkirche, die eigentlich ein Dom ist.

Bevor man ganz im Norden zur Sankt-Gertrud-Kirche und ins Nordviertel dahinter gelangt, muss man allerdings durch einen Teil der Fußgängerzone, der sich mit Döner-, Sex- und Shisha-Läden nicht gerade schmückt. (Davor endet der Kulturpfad natürlich.) Das Nordviertel selbst bekam ich nicht zu Gesicht. Meine Tour endete an der U-Bahn-Haltestelle Rheinischer Platz, von wo aus ich noch einen Blick auf die gewaltige Baustelle werfen konnte, die einmal der hochmoderne Campus der Universität Duisburg-Essen werden soll - auch hier ist der Wandel also noch im Gange.

Insgesamt hat sich mir Essen von einer schönen Seite gezeigt. Der kulturelle Wandel gibt sich leicht zu erkennen: Andere deutsche Städte sind sicherlich schöner, doch der geschichtliche Hintergrund mit den damit verbundenen Vorurteilen über das Ruhrgebiet macht einen Besuch Essens sicherlich zu einer erkenntnisreichen und lohnenden Erfahrung.
Den Kulturpfad im Speziellen halte ich für eine gelungene Einrichtung. Eventuell wäre etwas ausgeglicheneres Info-Material angebracht. Für 10 Euro gibt es ein 200 Seiten starkes Büchlein zum Thema.[2] Wer allerdings kein Geld ausgeben will und etwas kompaktere Informationen wünscht, steht mit nichts als dem mageren Flyer aus der Touristeninformation da.

  1. tovotu.de/img/artik...0110527_mrchicken.jpg
  2. Auf blauen Steinen. ISBN 3837500683. Klartext-Verlagsges., 2010

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