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28. Januar 2016
Biodiversität und Artenvielfalt: alles bloß kitschige Öko-Romantik?

Unter Biodiversität versteht man die Vielfalt von Arten (von Organismen), Ökosystemen und Genen (DNA) und das komplexe Zusammenspiel dieser Vielfalt. Aber wenn von Vielfalt die Rede ist, dann ist in der Regel auch genau das gemeint: Quantität. In wissenschaftlichen Analysen zur Lage der Biodiversität werden die existierenden Arten, Organismen usw. schlichtweg gezählt.[1] Eine Abnahme der so gewonnenen absoluten Zahl wird als verringerte Biodiversität gewertet.[2] Aber wieso ist es überhaupt wichtig, dass Arten, Ökosysteme und Gene in möglichst großer Zahl vorhanden sind? Was rechtfertigt die Fokussierung auf die schiere Anzahl gegenüber einer Einzelfalluntersuchung der konkret betroffenen Arten, Ökosysteme und Gene?

Wir beschränken uns nachfolgend auf Artenvielfalt, weil dieser Teilbereich der Biodiversität in der öffentlichen Wahrnehmung am stärksten vertreten ist und einen Zugang zum großen Themenfeld Biodiversität auch mit geringem öko- bzw. biologischen Vorwissen erlaubt.

Jeder noch so kleine Organismus zählt

In der Regel kommt man schnell zu der Einsicht, dass die Zahl der Arten, die in einem funktionierenden Ökosystem (z.B. im mitteleuropäischen Mischwald) leben, nicht umsonst sehr hoch ist. Zwischen Bakterien, Würmern, Insekten, Vögeln, Nagetieren, Pilzen, Bäumen, Gräsern, Moosen ... besteht ein hochkomplexes Zusammenspiel - eine Tatsache, die selbst ein Laie bei etwas genauerer Betrachtung vor Ort mühelos nachvollziehen kann. Dass dabei gerade die kleinen Organismen entscheidenden Anteil haben, konnte bereits Charles Darwin in einer Untersuchung über den Regenwurm sehr eindrücklich nachweisen.[3]

Menschen sind ziemlich schlecht darin, etwas eigenverantwortlich zu regulierenDagegen ist nicht sofort erkennbar, warum es nicht möglich sein soll, eine qualitative Unterscheidung danach zu treffen, inwiefern eine bestimmte Art Einfluss auf existierende Ökosysteme und natürliche Ressourcen hat. An dieser Stelle ein eher intuitiver Einwand: Der Mensch beutete in der Vergangenheit allzu oft natürliche Ressourcen unterschiedlichster Art irreparabel aus. Er stellt sich erfahrungsgemäß bei der Unterscheidung von unwichtigen oder schützenswerten Ressourcen oder Lebewesen ziemlich dumm an. Eine ausgestorbene Art ist aber unwiderbringlich. Insofern ist es nachvollziehbar, dass man in den letzten 30 Jahren dazu übergegangen ist, pauschal jede Art zu schützen.

Eine andere, wissenschaftlichere Sichtweise bietet die Versicherungshypothese. Sie besagt, dass sich ein Ökosystem umso robuster gegenüber veränderten Umweltbedingungen (Klimaveränderungen, Epidemien, Naturkatastrophen ...) verhält, je größer die Artenvielfalt ist. Die Vielfalt ist also ein Garant für besondere Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen. Andererseits gilt auch: Je größer die Vielfalt, umso produktiver wirtschaftet das Ökosystem unter günstigen Bedingungen. Dieses Modell bezieht in der Regel übrigens zusätzlich zur bloßen Vielfalt tatsächlich auch qualitative Eigenschaften mit ein.[4]

Wird Biodiversität politisch missbraucht?

Trotz ihrer in Wissenschaftskreisen unangezweifelten Bedeutsamkeit, ist die Glaubwürdigkeit von Biodiversität bzw. von Artenschutz in einer Krise. Artenschutz steht unter Verdacht, in politischen Debatten instrumentalisiert zu werden, weil man mit genug Geduld bei jedem größeren (Bau-)Projekt eine dadurch bedrohte Art findet - so geschehen beispielsweise 2010, als die Bauarbeiten am Großprojekt "Stuttgart 21" durch Eilantrag des BUND gestoppt wurden, um ein Habitat des geschützten Juchtenkäfers vor der Zerstörung zu bewahren.[5] In den Medien, die sich bis dahin sehr auf die politische Auseinandersetzung zwischen Bahn und unterschiedlichen Bürgerinitiativen konzentrierten, kümmerte man sich wenig darum, warum der Juchtenkäfer so viel Aufmerksamkeit tätsächlich verdient hatte.[6]

Als später ein weiterer Baustopp aufgrund der (wie sich herausstellte, invasiven, also nicht einheimischen) Mauereidechse notwendig wurde, entstand endgültig der Eindruck, hier sei eine Menge Geld in den Sand gesetzt worden, um die schrullige Naturromantik verrückter Ökos zu befriedigen. Die gestressten Projektplaner klagten, in Deutschland machten die umfänglichen Vorschriften zum Artenschutz Projekte wie Stuttgart 21 fast unmöglich. In China dagegen werde "die Planfeststellung mit der Planierraupe gemacht".[7] Die verheerenden (auch wirtschaftlichen!) Folgen der chinesischen Umweltzerstörung werden dabei leider mit keinem Wort erwähnt.[8]

Umweltschutz ist eine zivilisatorische ErrungenschaftDass sich Großprojekte in Deutschland so ausführlich mit dem Umweltschutz zu befassen haben, muss als eine große zivilisatorische Errungenschaft der letzten zwei oder drei Jahrzehnte angesehen werden. Demgegenüber stehen aber weiterhin große Defizite im Umweltschutz, die großen Handlungsbedarf in Wirtschaft und Politik nach sich ziehen. Die Verteufelung von Umweltschutzauflagen aus wirtschaftlichen Kreisen ist eine Gefahr für die Überlebensfähigkeit der Menschheit und für den Erhalt einer lebenswerten Umwelt.

Biodiversität als lästiger Kostenfaktor des Unternehmers

Die Wirtschaftswissenschaften, die seit je unternehmerische und regulatorische Entscheidungen fast ausschließlich an monetären und juristischen Eckpunkten festmachen, haben kein gutes Bild von Biodiversität in der breiten Bevölkerung hinterlassen. Dabei warnen Ökologen schon lange vor den verheerenden Folgen eines Aussterbens von Arten und Ökosystemen und inzwischen bestätigen unzählige Arbeiten, dass die Verschlechterung natürlicher Ressourcen wie Luft, Böden oder Wasser bereits heute alarmierende Ausmaße angenommen haben - oft in direktem Zusammenhang mit einem Rückgang der Biodiversität. Außerdem hängt die Zerstörung von Ökosystemen mit dem Anstieg von CO2 in der Atmosphäre zusammen (sehr eindrucksvoll etwa bei Mooren[9]).

Das Problem ist offensichtlich nicht die Biodiversität, sondern die Wirtschaft. Hier und da werden entsprechend die Rufe nach einem Paradigmenwechsel laut: Die akademische Wirtschaftsforschung solle endlich ihrer Verantwortung für nachhaltiges Leben auf der Erde gerecht werden. Es wird gefordert, Nachhaltigkeit im Curriculum wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge zu etablieren. Das Problem ist nicht die Biodiversität, sondern die WirtschaftAuf der realpolitischen Seite gilt oft eine Monetarisierung der Biodiversität als Königsdisziplin, was zunächst einmal ermöglichen würde, sie in traditionellen wirtschaftlichen Modellen zu berücksichtigen.

Nachhaltig sind solche Maßnahmen aber nicht: Im traditionellen Sinne wirtschaftlich denkende Unternehmer machen alles, was sich finanziell am meisten lohnt und rechtlich gerade noch erlaubt ist. So gerät die Politik ständig in die Lage, den finanziellen oder rechtlichen Rahmen einschränken zu müssen, um das ansonsten verantwortungslose Handeln der Unternehmer zu regulieren. Solche Maßnahmen werden, als Gängelung der demokratischen Wählerschaft empfunden, immer ein politischer Kraftakt sein.

Andererseits sind Unternehmer in kapitalistisch und marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystemen dazu gezwungen, rücksichtslos zu handeln - wenn sie es nicht tun, tut es ein anderer. Die bloße Umerziehung in neu ausgerichteten wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen würde also bestenfalls eine Menge gescheiterter Unternehmer hervorbringen. Was stattdessen dringend benötigt wird, ist eine akademische Auseinandersetzung in den Wirtschaftswissenschaften mit der Frage, wie eine dauerhafte und nachhaltige Regulierung der Wirtschaft in Umweltschutzfragen trotz der geschilderten politischen Schwierigkeiten gelingen kann.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Umweltschutz 1993 als Staatsziel in das deutsche Grundgesetz aufgenommen wurde (Artikel 20a GG). Das klang damals fortschrittlich. Um Unternehmer endlich umfänglich haftbar für ihre Umweltzerstörung zu machen, reichte das aber nicht - um Staatsziele hat sich schließlich nur der Staat zu kümmern.[10]

Missverstandene Wolfspolitik

Ein weiteres Beispiel für missverstandene Biodiversität ist der Ruf, der dem politischen Umgang mit den neuerdings in deutschen Wäldern wieder anzutreffenden Wölfen anhängt. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, die politischen Maßnahmen in diesem Zusammenhang entstammten einer kostspieligen Rotkäppchen-Romantik, die besagt, der Wolf gehöre in deutsche Wälder. Das sei kulturell geboten - koste es, was es wolle.

Jäger tendieren dazu, ökologisch unvorteilhafte Wildbestände zu bevorzugenTatsächlich leiden deutsche Wälder seit Jahrzehnten unter einem Schwarz- und Rotwildüberschuss.[11] Hirsch, Reh und Wildschwein haben keine natürlichen Feinde mehr und werden zur Belastung für die Flora der deutschen Wälder. Längst versucht man dieser Entwicklung durch Abschussquoten für Jäger Herr zu werden. Aber die deutschen Jäger tendieren dazu, ökologisch unvorteilhafte Wildbestände zu bevorzugen (mehr Wild, mehr Spaß?), und füttern die Tiere oft unerlaubt durch den Winter.

Wie oben gilt: Generell sind Menschen ziemlich schlecht darin, etwas eigenverantwortlich zu regulieren. Es wäre also besser, das Ökosystem Wald eigne sich seine natürlichen Raubtiere wieder an, die dann den Bestand von Rot- und Schwarzwild in Schach halten. Und das passiert momentan durch (vor allem aus Polen) nach Deutschland ziehende Wolfsrudel. Die deutsche "Wolfspolitik" tut nichts anderes, als dieser positiven Entwicklung unnötige Schranken zu nehmen.

Umweltschutz hat es weiterhin schwer

Meine Erfahrung bei der Recherche zu diesem Artikel ist vor allem: Es mag bei Lobby-Arbeit den generellen Vorwurf geben, dass Lobbyisten sehr engstirnig nur verteidigen, was auf ihrer Agenda steht, und so tun, als seien ihre Ziele die ultimativen Ziele der Menschheit. Ich habe das Gefühl, dass die Lobbyisten der Umweltschutzorganisationen mit dieser Einschätzung zumindest häufiger richtig liegen als die Lobbyisten jedes anderen Interessenverbands. Gleichzeitig konnten die Ökowissenschaften ihr Jutebeutel-Image des fanatischen Tierschützers bis heute nicht ablegen und haben es in der öffentlichen Wahrnehmung schwer, mit dem anzugtragenden Unternehmertum des Exportweltmeisters Deutschland zu konkurrieren.

  1. iucn.org/about/work...rammes/species/?10173
  2. Auch der etwas kompliziertere LPI-D von WWF ist nicht mehr als eine etwas kompliziertere Zählart: wwf.panda.org/about.../living_planet_index2
  3. de.wikipedia.org/wi...gkeit_der_W%C3%BCrmer
  4. ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC15485
  5. spiegel.de/politik/...kaefers-a-723161.html
  6. pub.epsilon.slu.se/...ius_t_110304.docx.pdf
  7. faz.net/aktuell/pol...-paaren-12851172.html
  8. theguardian.com/glo...-china-inner-mongolia
  9. wwf.at/de/moore
  10. humanistische-union...aatsziel-umweltschutz
  11. waldportal.org/heim...m.20100505/index.html

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