tovotu

26. November 2010
Offenheit: das fehlende Stück am angebissenen Apfel

Man kann nicht leugnen, dass Apple der einzige Hersteller von Unterhaltungselektronik ist, dessen Geräte regelmäßig technisch alles bisher dagewesene übertreffen und trotzdem wie modisches Accessoire daherkommen. Die Ästhetik der Apple-Produkt geht so weit, dass man diesen kleinen technischen Wunderdingen überhaupt nicht ansieht, dass es sich um technische Geräte handelt. Hier fällt kein Stecker, kein Anschluss, kein Lautsprecher, kein Mikrofon und keine integrierte Kamera aus dem Konzept. Appleprodukte sind wie aus einem Guss und das konsequent. Alle überflüssigen Unregelmäßigkeit, wie sie ausnahmslos alle anderen Hersteller technischer Geräte für zusätzliche Anschlussmöglichkeiten und sonstige Funktionen in Kauf nehmen, werden radikal eliminiert.

Dass die tatsächliche Qualität oder das ausgefeilte Design von Apple ständig aufs Schärfste bestritten werden, ist meiner Meinung nach zunächst mal eine Folge zweierlei Faktoren: Jeder Technikbegeisterte wird die Faszination, die von den High-End-Geräten ausgeht, bestätigen müssen. Es ist eben zweifellos etwas anderes, ob man den extrem hochauflösenden und erstaunlich reaktionsfähigen Touchscreen eines iPhones oder den Touchscreen eines beliebigen anderen Smartphones auf dem Markt unter den Fingern hat. Viel Kritik ist also sicherlich durch Neid auf diejenigen, die sich diese Dinge leisten können, verursacht. Außerdem bleibt aber noch die Abneigung, die viele Menschen grundsätzlich vor beängstigend rasch expandierenden Trends verspüren. Jeder Mensch scheint seine Grenzen zu haben, ab wo er einen Trend als "Hype" bezeichnet und es für "albern" hält, diesem zu folgen. Bei manchen ist diese Grenze bei Apple eben überschritten. Und das kann durchaus jemand sein, der jeden Dan-Brown-Roman dreimal gelesen und die Verfilmungen eine Woche nach dem Erscheinungstermin bereits zweimal im Kino gesehen hatte - mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass auch der Hass auf Apple inzwischen zu einem "albernen Hype" geworden ist.

Aber das ist nicht alles. Auch wenn sicherlich der größte Teil der Apple-Kritik durch obige Gründe motiviert ist, bleiben ernstzunehmende Kritikpunkte auf dem Tisch. Ob man den in meinem einführenden Artikel [1] erwähnten vier mal vier Zentimeter Touchscreen für 150 Euro wirklich "braucht", ist eines jeden eigene Entscheidung. Ein bisschen Spieltrieb hat ja schließlich jeder und wer dann eben noch das Geld aufbringen kann - warum nicht?
Aber ein Manko ist nicht aus der Welt zu räumen: Apple-Produkte sind so unflexibel wie ein Knäckebrot. Man darf diesen Kritikpunkt nicht falsch verstehen: Mir geht es bei Flexibilität um Offenheit. Je mehr Geld ich in ein Produkt stecke, desto mehr erwarte ich, dass ich dieses Produkt vielseitiger und nach eigenen Vorstellungen verwenden kann. Es soll hier gar nicht darum gehen, ob das die Konkurrenz besser macht (dem ist im Allgemeinen nicht so). Aber ein Apple-Produkt zu kaufen ist vergleichbar mit dem Kauf eines Autos, dass nur in Shell-Tankstellen getankt werden kann. Und das tut weh, wenn man die hohen Preise für Apple-Produkte in Betracht zieht. Dass dem Benutzer beispielsweise iTunes aufgezwungen wird, ist völlig inakzeptabel - ganz egal, ob iTunes nun toll ist oder nicht. Diese Einschränkung ist technisch schlichtweg nicht notwendig. Es ist eine reine Marketing-Strategie, die dem Kunden ein Stück Freiheit raubt. Genausowenig ist einsichtig, dass Software für iOS nur über den original App Store vertrieben und bezogen werden darf.

Warum also Offenheit? Seit einigen Jahren wird der Ruf nach Offenheit immer lauter und unzählige glückliche Windows- und Mac-Benutzer stehen dem mit Unverständnis gegenüber: "Unsere geschlossenen Systeme geben uns doch alles, was wir wollen, warum brauchen wir Offenheit?" Ich kann mir vorstellen, dass es viele regierungstreue Chinesen gibt, die das gleiche Argument gegen die Meinungsfreiheit bringen würden.
Am schönsten lassen sich die Vorteile von Offenheit vielleicht an der inzwischen weit verbreiteten Open-Source-Software (OSS) demonstrieren. Dass die Benutzung solcher Software Probleme mit sich bringt, ist eigentlich im Moment nur Resultat der Tatsache, dass die vielen Hersteller geschlossener Produkte den Entwicklern der offenen Software kein Entgegenkommen zeigen wollen. Wenn der neueste Laptop von Samsung unter Linux keine WLAN-Verbindung aufbaut, liegt das im Grunde nicht an den Linux-Entwicklern. Schuld ist der Hersteller, der keine Treiber für Linux zur Verfügung stellt. Würde er die nämlich nicht für Windows zur Verfügung stellen, so würde es dort die gleichen Probleme geben.
Darüber hinaus erschweren viele Hersteller aber zusätzlich die Entwicklung offener Treiber durch die Linux-Community, indem sie immer wieder neue Signalprotokolle für ihre Chipsätze verwenden, die sie nicht offenlegen. Bedenkt man also, dass viele Hersteller offener Software dermaßen unkooperativ gegenüber stehen, ist es eigentlich erstaunlich, dass OSS so gut funktioniert.

So viel zur Benutzbarkeit von OSS. Nun zum Sinn der Offenheit: "Wenn mein Produkt nicht das tut, was ich will, bringe ich es ihm eben bei." Diese Vorstellung ist in geschlossenen Systemen nur sehr begrenzt vorstellbar. Nun halten viele Leute diesen Einwand für sehr hypothetisch, da ja sowieso kaum ein durchschnittlicher Benutzer fähig ist, die nötige Programmierarbeit (im Bezug auf OSS) vorzunehmen. Das ist in vielen Fällen aber gar nicht notwendig: Zuletzt besteht schließlich die Möglichkeit, an einen erfahreneren Benutzer heranzutreten und ihn um Hilfe zu bitten. Die riesige Open-Source-Community macht das möglich. In dieser Community findet sich in der Regel auch zu jedem noch so außergewöhnlichen Problem eine engagierte Gruppe von Personen, die sich der Sache annimmt.

Zum anderen schafft Offenheit eben auch Vertrauen. Was Apples Betriebssystem iOS, das auf iPhone, iPod Touch und iPad läuft, im Hintergrund mit meinen sensiblen Daten macht, weiß nur Apple alleine. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Apple die Daten an irgendeinen Server schickt und direkt Datenraub begeht. Das halte ich zumindest für absurd. Aber es reicht schon, wenn ein iPhone gelesene Emails irgendwo im Arbeitsspeicher unverschlüsselt ablegt, wo sie jemand lesen könnte, der das iPhone in die Hände bekommt, obwohl es eventuell passwortgesichert ist. Diese Überlegungen sind durchaus relevant, wenn man bedenkt, dass Smartphones vermehrt als Diensthandys Verwendung finden, über die auch Emails mit für den Arbeitgeber sensiblen und vertrauenswürdigen Inhalten abgerufen werden - Industriespionage ist längst alltäglich geworden.

Bei offener Software besteht ein viel größeres Potenzial, dass irgendein engagierter Anwender eine Sicherheitslücke rechtzeitig entdeckt. Als sicherstes Betriebssystem gilt vielerorts nicht ohne Grund "OpenBSD" [2], das die Offenheit bereits im Namen führt. Nachrichten über Datenlecks unterschiedlicher Art bei iPhones durchziehen übrigens die Presselandschaft ununterbrochen seit der ersten iPhone-Generation [3][4][5][6][7][8][9].

Um zu Apple zurückzukommen: Steve Jobs hat viele gute Gründe angeführt, warum man Flash nicht mehr benutzen und unterstützen sollte [10]. Aber warum heißt das, dass er seine Kunden in diesem Punkt bevormunden muss? iPhone-Benutzer zahlen horrende Preise für ein technisch extrem ausgefeiltes Gerät. Warum sollen sie nicht so etwas Banales wie Flash benutzen dürfen? Es ist meiner Meinung nach ebenso möglich, moralische, technische, soziale, wahrscheinlich sogar ökologische und ökonomische Gründe gegen die Benutzung von Apple-Produkten ins Feld zu führen. Aber deswegen würde ich doch nicht unterbinden, dass Treiber für den Anschluss von iPods an Linux-Systeme entwickelt werden, wenn es in meiner Hand läge.

Mein Artikel würde ein schiefes Bild von der momentanen Lage entwerfen, wenn ich hier schon aufhörte. Es gehört in dieser Diskussion bereits zum guten Ton, es bei einer pauschalen Ablehnung des Feindbilds und einer unkritischen Verklärung der eigenen Position zu belassen.
Seit Jahren guckt die gesamte Unterhaltungselektronik unzählige Details bei Apple ab. Auf Seiten der Apple-Hasser gesteht das niemand ein, während Apple-Liebhaber sich darüber lustig machen. Ich sehe aber nicht, wieso man Apple die Vorreiterrolle nicht offen zugestehen sollte - dort, wo Apple sie inne hat. Ebenso schleierhaft ist mir aber auch, wieso man sich seitens der Apple-Liebhaber darüber ärgert oder lustig macht, dass andere die Vorlagen von Apple kopieren, weiterentwickeln und für eine breite Masse zugänglich machen. Apple kann sich die Vorreiterrolle nun mal leisten, weil seine Produkte viel Geld kosten - es spielt in der Premium-Liga. Im Sinne der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit sind aber günstige Produkte ebenso wünschenswert. Da gibt es gar nichts zu belächeln. Besonders, wenn man all die Sachen bedenkt, die Apple seinerseits woanders abgeguckt hat.

Apple ist also in vielen Dingen Vorreiter. Warum nicht auch in der Offenheit? Darüber sollten sich Apple-User Gedanken machen. Alle Apple-Hasser, die beim letzten Satz zufrieden genickt haben, sollten sich ihrerseits Gedanken darüber machen, ob es um die Offenheit bei anderen Herstellern wirklich deutlich besser steht. Hier gibt es noch viel zu tun und es wäre doch schön, wenn am Ende weder Apple noch der Rest der Welt, sondern alle zusammen im Sinne der Offenheit und des technischen Fortschritts den Sieg davon tragen könnten.

  1. tovotu.de/blog/473-...sphre-und-Datenschutz
  2. openbsd.org
  3. golem.de/1003/74087.html
  4. zeit.de/online/2008.../iphone-speicher-hack
  5. golem.de/1008/76988.html
  6. spiegel.de/netzwelt...0,1518,710092,00.html
  7. zeit.de/digital/mob...0-06/iphone-datenleck
  8. golem.de/1008/77189.html
  9. golem.de/1010/78900.html
  10. apple.com/hotnews/thoughts-on-flash

Kommentare

Administrator 9. August 2011

Glaubt man dem Marktforschungsunternehmen VisionMobile, so würde es Apples Erfolg nicht unbedingt schaden, wenn sie mal ein bisschen mehr Offenheit zeigen würden: zeit.de/digital/int...vergleich-open-source

Nils 29. November 2010

Echt gut! Versuch doch mal, deine Artikel zu verkaufen ☺
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