tovotu

9. Januar 2010
Tolles Konzept mit kritikwürdigem Thema

Es beginnt mit dem Tagebuch eines Pazifikreisenden namens Adam Ewing in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch seine Geschichte bricht abrupt ab und wird durch die Briefe des angehenden Komponisten Robert Frobisher an seinen Freund Sixsmith im Jahre 1931 ersetzt, der zufällig auf eben diese Tagebuchaufzeichnung von Adam Ewing stößt. Aber auch diese Handlung wird unvermittelt abgebrochen und ersetzt: diesmal durch einen Kriminalroman um die Journalistin Luisa Rey im Amerika des Jahres 1975, die einem Komplott von Atomkraft-Unternehmern auf der Spur ist und dabei wiederum mehr oder weniger zufällig auf die Briefe jenes Robert Frobishers stößt. Diesmal hat man es schon vermutet: Auch der Roman bricht jäh ab, um der Leidensgeschichte eines englischen Verlegers Anfang des 21. Jahrhunderts Platz zu machen. Der wiederum liest gerade eben jenen Roman über Luisa Rey. Nach dem gleichen Schema wird diese Handlung erneut durch eine protokollartige Aufzeichnung eines Interviews mit einem Klon im Korea der nahen Zukunft abgewechselt. Dieser weibliche Klon weiß von jenem englischen Verleger durch eine Verfilmung seiner Geschichte. Als nächstes folgt eine mündliche Erzählung - konsequenterweise in der fernen Zukunft. Für die Personen dieser Erzählung ist eben genannter Klon eine Gottheit und sie finden durch Zufall die Aufzeichnungen von seinem Interview. Als habe man hier einen Spiegel angelegt, werden im Nachfolgenden nun all diese Geschichten in umgekehrter Reihenfolge abgeschlossen.

Meine Zusammenfassung ist eine Übersicht über den 2004 veröffentlichten Roman Cloud Atlas (dt. Wolkenatlas) von David Mitchell. Es wird hoffentlich deutlich, wie schwierig sich eine Inhaltsangabe angesichts der höchst komplizierten Verschachtelung dieser sechs Geschichten gestaltet. Wunderlicherweise wartet hier gerade der deutschsprachige Wikipedia-Artikel mit einer recht übersichtlichen Zusammenfassung auf.

Als ich den Roman vor gut einem Jahr auf Amazon.de entdeckte, gefiel mir gleich sein ungewöhnlich verschachtelter Aufbau und weil man ihn auf Englisch gebraucht bereits für 1 Cent zzgl. Versandkosten bekommt, griff ich sofort zu. Vor wenigen Tagen beendete ich die Lektüre des Cloud Atlas und muss sagen, dass er mich mit gemischten Gefühlen zurückgelassen hat.

Das Konzept des Romans ist über die Maßen gelungen. Insbesondere der konsequente Wechsel von Ort, Zeit, Personen, Textform und Schreibstil schinden Eindruck. Die Handlungen der einzelnen Geschichten sind meistens nicht besonders außergewöhnlich. Aber die Beschreibungen der Schauplätze und Charaktere wussten mein Interesse zu wecken. Insbesondere Mitchells Zukunftsdystopien können den Leser auf neue Gedanken bringen.

Die Form - das Konzept - des Romans ist also herausragend. Aber in Bezug auf inhaltliche Aspekte neige ich zu einer kritischeren Bewertung. Denn nicht nur die Handlung ist eher gewöhnlich, sondern auch eines der elementaren Kernthemen halte ich für etwas befremdlich. Der Roman ist so konstruiert, dass zwischen sechs der in den Geschichten vorkommenden Personen scheinbar eine Art übersinnliche Verbindung besteht. Ganz im Sinne der Vorstellung von "Reinkarnation" (Wiedergeburt), scheint je eine Person die "gleiche" Seele in sich zu tragen wie die anderen. Symbolisch steht dafür ein speziell geformtes Muttermal, das all diese Personen an der gleichen Stelle tragen. Die Umsetzung dieser Idee mithilfe zahlreicher Verschleifungen zwischen den Geschichten hat zwar etwas Romantisches an sich, wirkt auf mich aber dermaßen unauthentisch und konstruiert, dass es sich leider ziemlich kitschig ausnimmt.

Die folgenden zwei Zitate verdeutlichen nochmal die beiden Grundthemen. Das erste bezieht sich auf die eben angesprochene Seelenwanderung, das zweite hat die ständige Unterdrückung und Unterdrücktwerdung auf der Welt zum Thema:

"Souls cross ages like clouds cross skies, an' tho' a cloud's shape nor hue nor size don't stay the same it's still a cloud an' so is a soul. Who can say where the cloud's blowed from or who the soul'll be 'morrow? Only [...] the east an' the west an' the compass an' the atlas, yay, only the atlas o' clouds."
David Mitchell: cloud atlas. Hodder and Stoughton, London 2004. Seite 324

"Maoris prey on Moriori, Whites prey on darker-hued cousins, fleas prey on mice, cats prey on rats, Christians on infidels, first mates on cabin-boys, Death on the Living. 'The weak are meat, the strong do eat.'"
Ebd. Seite 524

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