tovotu

18. Juni 2010
Thomas Bernhard: Der Untergeher - Ein pausen- und gnadenloser Monolog

Wie das unter arbeitslosen Abiturienten ist, hatte mich Mittwoch Abend gegen 23 Uhr die Müdigkeit noch nicht eingeholt. Ich wollte wenigstens noch einige Seiten in einem Buch lesen. Da keines zur Hand war, dass noch darauf wartete, zu Ende gelesen zu werden, griff ich zum dünnsten Buch unter den Büchern, die ich mir seit längerem zu lesen vorgenommen hatte: "Der Untergeher". Ein Roman des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard aus dem Jahre 1983.

Es handelte sich um die SZ-Bibliothek-Ausgabe: In grünem Schutzumschlag machte das dünne Büchlein einen recht sympathischen Eindruck. Ich wusste schon, es würde sich auf den 157 Seiten um Klaviervirtuosen drehen, namentlich auch um den weltberühmten Glenn Gould. Das Thema war mir gerade recht, befand ich mich doch selbst gerade in der Krise, in 10 Tagen ein Chopin vorspielen zu müssen, ohne im Geringsten mit meiner stümperhaften Spieltechnik zufrieden sein zu können.

Der Roman war mir auf Empfehlung meines Vaters in die Hände geraten. Seine Anmerkungen dazu im Vorfeld gaben mir schon einen Vorgeschmack auf Thomas Bernhard, einen der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Charakteristisch sei wohl, er habe sein Vaterland Österreich nicht gerade geschont. Doch nicht nur Österreich sei Zielscheibe der oft kränklich anmutenden und stets pessimistischen Kritik.

Ich brauchte zwanzig Seiten, um mich an den Stil zu gewöhnen. Danach riss er mich fort. Es wurde Mitternacht, es wurde ein Uhr, da entschied ich mich aus Vernunft, bei der nächsten Möglichkeit die Lektüre zu unterbrechen, um sie frühestens am nächsten Morgen fortzusetzen. Eine Möglichkeit ergab sich nicht, den Schlaf brauchte ich aber trotzdem und schloss mitten im Lesen das Buch. Die übrigen 60 Seiten schlossen sich am nächsten Morgen fast nahtlos an - geschafft.

Bernhards "Untergeher" ist mehr eine Rhapsodie als ein literarisches Werk: ab der zweiten Seite nur noch 156 Seiten Blocksatz - ein einziger langer Paragraph ohne Absätze geschweige denn Kapiteleinteilungen. Der Schreibstil ist dabei dermaßen einheitlich, dass eine Pause beim Lesen kaum möglich ist. Der Roman liest sich wie ein einziger langer Satz, wie ein einziges Wort.
Ein Ich-Erzähler erinnert sich daran, was ihm durch den Kopf ging, als er nach dem Selbstmord eines Freundes dessen Heimat aufgesucht hatte, um dessen Nachlass zu sichten. Diese erinnerten Gedanken nehmen fast alles ein, die Rahmenhandlung hat am Anfang fast nur den Sinn, den Gedankenfluss an den unpassendsten Stellen zu unterbrechen. Die Einschnitte bringen den Leser aus dem Konzept, zwingen ihn, das eben Gelesene nochmal Revue passieren zu lassen, reizen dabei aber seine Neugierde, sodass er sich mit noch mehr Entschlossenheit aufs Weiterlesen verpflanzen wird.

So perfekt der Leser mit den ersten Sätzen in den Roman hineingezogen wird, so gnadenlos wird er am Ende im Regen stehen gelassen. 157 Seiten Reflexionen sind zwar nicht wenig, aber man hat am Ende eher das Gefühl, dass sich hier ungleich mehr Fragen gestellt als Antworten gefunden haben. Das ist bei einem literarischen Werk natürlich eine Stärke, denn was ist wertvoller, als wenn der Autor es schafft, dem Leser Rätsel aufzugeben - fertige Antworten sind ja im Grunde meistens entweder unbefriedigend oder nicht hinreichend individuell.

Der Leser wird von Bernhard also nicht geschont. Noch viel weniger erhalten aber alle Institutionen, Objekte und Menschen auf diesem Planeten Schonung - am allerwenigsten das Vaterland des Autors: Österreich. Hier bleibt kein Auge trocken. Das einzige Subjekt, dass im Verlaufe des Buches nicht in Grund und Boden kritisiert wird, ist Glenn Gould. Der hat alles richtig gemacht - ein Genie. Er lebte das perfekte Leben und starb den perfekten Tod - immer zur rechten Zeit am rechten Ort. Keine Verfehlungen, keine Makel.

Und genau das macht dieses Buch so spannend. Der "Untergeher" ist nämlich eigentlich die Bezeichnung für einen anderen Pianisten im Buch, bei dem einfach alles schief gegangen ist. Eine gebrochene Persönlichkeit, deren Ehrgeiz immer von Ängstlichkeit gehemmt war und deswegen immer ins Leere ging.
Der frappierende Kontrast zwischen dem gescheiterten Leben dieses "Untergehers" und Glenn Goulds Leben stellt die Frage nach dem Sinn des Perfektionsstrebens der Menschen. Und in ihrer verallgemeinerten Form geht uns diese Frage alle an. Deswegen ist dieses Buch einfach für jeden unglaublich spannend.

Weiter werde ich gar nicht auf Inhalt oder Textverständnis eingehen. Ich wollte nur ein bisschen Werbung für dieses hochinteressante Buch machen. Ich denke, jeder kann die Zeit und Konzentration für ein 157 Seiten dünnes Buch aufbringen. Und Bernhards "Untergeher" sollte man sich auch wirklich nicht entgehen lassen!

Kommentare

Tasilo 20. Juni 2010

[...]"Untergeher" ist mehr eine Rhapsodie[...]

Das ist mir bei diesem Wörtchen eingefallen => youtube.com/watch?v=nTheG--2NE0
Sehenswerter Streifen. Netter Artikel. Dieser Thomas B. scheint ja ein interessanter Schriftsteller zu sein.
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