29. März 2011
Über den ersten Satz von «Ein Ort für meine Träume» (Frank Federsel)
Vor einiger Zeit veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Artikel über Klavierstücke, die schwerer klingen, als sie letztendlich sind [1]. Die Sammlung von damals wurde mit einem Verweis auf Frank Federsel abgeschlossen - ich schrieb, niemand scheine die "unfassbare Einfachheit" seiner Stücke zu begreifen.
Inzwischen hatte ich die Möglichkeit, einen Blick in die Noten von Ein Ort für meine Träume zu werfen und das Stück selbst anzuspielen. Ohne die Kompositionen Federsels schlecht machen zu wollen, werde ich in diesem Artikel den ersten Satz [2] dieser Sonate ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Die Zeitangaben beziehen sich auf das verlinkte YouTube-Video
Die ersten dreieinhalb Minuten lassen eine klassische Sonatenhauptsatzform vermuten. Die Einleitung bis 0:30 erinnert entfernt an Mozarts Fantasie in d-moll [3], diese Art von Arpeggio dürfte aber wohl in vielen Stücken anzutreffen sein.
Als Exposition könnte man die Passage bis 1:49 verstehen: Hier tritt ein Thema A auf (0:33 - 0:56), das direkt wiederholt wird. Ein mehr oder weniger stark kontrastierendes Thema B schließt sich direkt an (1:28 - 1:49). Beide Themen sind in der klassischen Periode mit Vorder- und Nachsatz komponiert. Dass die Exposition nicht wiederholt wird, ist keine nennenswerte Abweichung von der Regel.
Im Nachfolgenden Durchführung und Reprise klar voneinander zu trennen fällt schwer. Thema A tritt - unterbrochen von einem Zwischenspiel - in zwei neuen Tonarten auf (zuerst bis 2:13, dann 2:42 - 3:03). Danach werden die Themen A und B bis 3:32 in wieder anderen Tonarten leicht variiert.
Bis hierhin ist alles ganz konventionell konzipiert. Wären Durchführung und Reprise weniger miteinander verschmolzen, hätte man das Stück an dieser Stelle beenden können.
Es schließt sich aber ein ziemlich freies Zwischenspiel an, in dem eine Melodie anklingt, die vielen Hörern aus dem Film "Herr der Ringe" (In Dreams [4]) bekannt sein dürfte (3:48 - 3:54). Wer genau hinhört, erkennt, dass es sich außerdem um eine rhythmische Variation des Themas B handelt. Ist etwa das gesamte Thema B besagter Filmmusik entlehnt?
Ab 5:10 wird ein neues Thema C eingeführt, dessen Ähnlichkeit zu dem berühmten Thema aus Beethovens "Sturm"-Sonate (Nr. 17), 3. Satz [5], verblüffend ist. Was sich ab 5:36 anschließt, kann seine Ähnlichkeit zu einem Motiv aus Beethovens Mondschein-Sonate, 3. Satz ([6] ab 1:04), nicht ganz verbergen. Zu diesem Thema D1 gehört noch ein Thema D2 (6:01 bis 6:39), dessen musikalische Konzeption an Mozarts Sonate Nr. 14, Satz 1 ([7] ab 0:50), erinnert.
Ähnlich wie im ersten Teil des Stückes wird jetzt Thema C in zwei neuen Tonarten wiederholt: erst bis 6:57 und dann nach einem ziemlich fantasielosen Übergang erneut bis 7:13. Ebenfalls in neuer Tonart präsentieren sich daraufhin die Themen D1 (bis 7:40) und D2 (bis 8:23), letzteres in leichter Variation.
Eine Wendung zum Schluss leitet die übertrieben ausgeschmückte Variation von Thema C ab 8:30 ein. Nach einem rhythmisch an moderne Pop-Songs erinnernden Ausklang (8:45 - 9:05) schließt eine melancholische Coda das Stück ab.
Insgesamt wirken die 10 Minuten etwas wahllos zusammengepflückt. Vier bzw. fünf Themen - je nach Zählweise (A,B,C,D1,D2) - sind in dieser Kombination zu viel. Ich hätte statt der langweiligen Transpositionen mehr Variationen erwartet. Dass sich der Komponist mit freien Variationen schwer zu tun scheint, kommt aber auch in den etwas missglückten Zwischenspielen zum Vorschein. Das ist schade, wenn man bedenkt, dass er sich bereits bei der klanglichen Konzeption der Themen selbst an bereits existierenden Stücken orientiert zu haben scheint.
Beim Spielen ist mir außerdem aufgefallen, dass einige Rhythmuswechsel und rhythmische Überlagerungen, hohe Tonlagen, Überkreuzstellung der Hände sowie der häufige Vorzeichenwechsel wie Schikane gegen Klavieranfänger wirken. Wirklich anspruchsvoll wird das Stück dadurch allerdings nicht.
Die Noten des gut 10 Minuten dauernden Satzes werden über das Internet für stolze 17 Euro vertrieben [8] und umfassen 15 DIN-A4-Seiten. Die musikalische Qualität rechtfertigt diesen Preis meiner Meinung nach nicht. Man sollte sich selbst überlegen, ob man so viel Geld dafür ausgeben will.
Bei vielen klassischen Klavierstücken findet man erst richtig gefallen an der Musik, wenn man sie selbst spielt. Bei diesem Stück verlor ich die Lust, nachdem ich es einmal von vorne bis hinten vom Blatt gespielt hatte.
Hätte Federsel die ständigen Wiederholungen in anderen Tonarten ausgespart, würde dieses Stück ein wunderbares Übungsstück für Anfänger abgeben: Es klingt nett (immerhin sind motivische Ideen großen Meisterwerken von Mozart und Beethoven ähnlich, um nicht zu sagen "entnommen") und enthält viele verschiedene rhythmische, melodische und harmonische Konzepte. Durch die Transpositionen und die übertriebene Gesamtlänge würde dieses Stück allerdings eher zum Geduldsspiel für einen Anfänger.